Der Digestif – eine neue, fast vergessene Welt.

Gibt es etwas Besseres als den Abend nach dem Essen in geselliger Runde bei einem guten Drink ausklingen zu lassen?

illustrissima/unsplash.com

Autor: Thomas Zilm

Er beschäftigt sich mit dem liquiden Leben. Zwischen Spirituosen und Weinen wandelnd, beschäftigt er sich nicht nur mit den Produkten, sondern vielmehr mit den Menschen und den Philosophien dahinter. Darüber schreibt er auf seinem Blog

Es gibt Dinge auf dieser Welt, die sind durch ihre Gegensätzlichkeit so fest miteinander verbunden, dass man das Eine ohne das Andere nicht zu denken vermag. Feuer und Wasser, Tag und Nacht, Gestern und Heute. All diese Dinge bedingen einander und sind Teil eines größeren Ganzen. Ähnlich verhält es sich mit Aperitif und Digestif – zwei liquide Instanzen sozialisierten Genusses, ohne die ein Essen in bestimmten Gegenden dieser Welt kein Essen, sondern nur Nahrungsaufnahme bedeutet. Über den Auftakt des Ritus „Genuss“ – den Aperitif habe ich an anderer Stelle Gedanken formuliert. Hier nun gehört die Bühne dem Digestif – oder das, was von ihm übriggeblieben ist.

Erinnerungskultur

Früher sei alles besser gewesen, dieses gängige Motiv sich erinnernder aber auch leider zumeist verklärender Zeitgenossen ist in vielen Sparten hinlänglich bekannt. Doch im Falle des Digestifs lässt sich der Zustand wohl treffender nicht formulieren. Früher war halt mehr Zeit für Genuss. Dieses „Früher“ lässt sich naturgemäß schwer verorten, doch muss es zu einer zumindest weniger hektischen Zeit gewesen sein, in der Alkohol noch nicht den verpönten gesellschaftlichen Stellenwert hatte, den er heute zuweilen angedichtet bekommt. Ein bekannter Journalist offenbarte mir einmal, dass mit dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin ein Ruck durch diese kleine gesellschaftliche Nische gegangen sei – in Bonn hätte man deutlich mehr getrunken. Dies wäre im schnellen Berlin undenkbar. Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dies trifft nicht nur auf diesen kleinen Querschnitt der Gesellschaft zu. Oder wann haben Sie zuletzt nach einem Essen noch längere Zeit gemeinsam getrunken und geredet?

Vom Nutzen und dem Mehrwert

Wenn man in bekannten Wörterbüchern nachschlägt, so wird der Digestif zumeist erklärt als ‘Verdauungsförderndes Getränk, welches nach dem Essen gereicht wird’. Wikipedia weiß dann noch, dass es im norddeutschen Raum dafür den Begriff des ‚Absackers‘ gibt. Die primäre Funktion des kleinen Schluckes Alkohol nach dem Essen soll also die Verdauung fördern. Nun, dieser Mythos ist hinreichend beseitigt, ist der Körper doch schon damit beschäftigt, die Mahlzeit zu verdauen und benötigt eigentlich keine weitere Aufgabe wie den Abbau von Alkohol. Nur bei Bitterlikören wie Ramazotti oder Averna, Underberg oder Kümmerling liegt ein klarer Nutzen in der Anregung der Magensäure durch die Bitterstoffe. Doch die Bandbreite klassischer Digestifs reicht weit über diese Kategorie hinaus.

Der eigentliche Mehrwert des Digestifs ist sozialer Natur. Ähnlich des Aperitifs geht es darum, das gemeinsame Essen als soziales Ereignis zu institutionalisieren. Mit dem abschließenden Getränk läutet man die letzte Phase des gemütlichen Beisammenseins ein – das entspannte Trinken.

Während bei Tisch so einige Konventionen dafür sorgen, dass man häufig konzentrierter und angespannter ist, so soll die Zeit danach einen gemütlichen, informellen Charakter haben. Dabei helfen eine entspannte Atmosphäre und ein lockerndes Getränk. Dies ist der wahre Nutzen eines Digestifs. Er lockert die Krawatte und die Gespräche.

Vom Wechsel zwischen Tisch und Sessel

Heutzutage wird, falls überhaupt, der Digestif am Tisch eingenommen. Irgendwo zwischen dem Klopfen kleiner Flaschen auf selbigen oder dem eingestaubten Wagen mit seit Jahren geöffneten Wein- und Obstbränden. So erscheint es eher wie ein auswendig gelernter Ritus denn als bewusst erlebter Genuss. Für einen klassischen Digestif sollte man – sofern es möglich ist – die Situation des Zusammenseins ändern. Der Wechsel der Räumlichkeit ist nicht immer gegeben, aber wer träumt nicht von einem Cognac vor dem Kamin? Die bürgerlichen Rauchersalons vergangener Tage zeugen vom Verständnis einer längst vergessenen Konsumkultur. Dabei ist es wichtig, den Digestif nicht als Domäne einer gehobenen sozialen Schicht zu verstehen – es ist vielmehr eine Frage der inneren Einstellung. Manchmal reicht es einfach nur, die Musik zu ändern oder die besagte Krawatte abzulegen. Das Zeremoniell des Digestifs beginnt im Kopf.

Zwischen Obst, Cafe Calva und Weinbrand

Die Auswahl der möglichen Digestifs ist schier unendlich und zumeist regional bestimmt. Globale Phänomene wie Bitterliköre seien an dieser Stelle ausgeklammert. Der Fokus soll nunmehr auf den hochprozentigen Spirituosen liegen, welche gemütlich in den Abend überleiten.

Im deutschen Raum stellen die Obstbrände den wohl bedeutendsten Teil des „Schnapses nach dem Essen dar“. Ob aus dem badischen oder württembergischen Raum kommend oder Österreich und Tirol: Obstbrände in der Qualität wie sie Faude , die Stählemühle  oder Rochelt abliefern, gehören zum Besten, was an abgefülltem Obstdestillat zu haben ist. Manchmal jedoch reicht – und dies wird durch die Situation bestimmt – auch ein weniger perfekter Brand, denn in den Dörfern Badens und Württembergs gibt es unzählige kleine Obstbauern, die auch äußerst bodenständige Schnäpse brennen.

Ein etwas in Vergessenheit geratener Digestif kommt aus dem Norden Frankreichs: der Calvados. Auch hier gibt es unzählige Qualitätsunterschiede. Generell jedoch gilt, dass Calvados ursprünglich ein Apfelbrand der einfachen Leute war und daher in seiner Geschichte nie den Anspruch auf höchste Qualität erfuhr. Dies ist erst in den letzten Generationen zu beobachten. Von daher ist der klassische Digestif dort der sogenannte Café Calva. Ein einfacher Kaffee und ein Glas einfachen Calvados. Es wärmt, gibt Energie und lässt die harte Arbeit vergessen. Und tatsächlich gehört diese Kombination bis heute zu einer gängigen Bestellung in lokalen Restaurants. Höhere Qualitäten jedoch sollte man pur genießen. So zum Beispiel einen 25jährigen Calvados von Lecompte oder die Vintage Abfüllungen der Familie Dupont.

Die edlen Klassiker

Die Königsdisziplin des klassischen Digestifs stellen jedoch nach wie vor die Weinbrände Spaniens, doch vor allem Frankreichs dar. Brandy, Armagnac und Cognac sind seit jeher die wertvollsten Flaschen auf den Digestif-Wagen dieser Welt. Die schwere Süße spanischer Brandys, denen die Hitze unter denen die Trauben wuchsen anzumerken ist; oder die uralten Armagnacs, welche in Vintage-Qualität angeboten werden und Geschichten erzählen könnten bis zu den eleganten und luxuriösen Destillaten der Stadt Cognac. Frankreich ist und bleibt die Superlative der Digestif-Getränke. Und wer jemals das Vergnügen hatte einen XO von Leopold, einen Delamain Vesper Grande Champagne  oder einen Hennessy Paradis nach einem Essen zu genießen, der versteht auch, dass der Digestif weit mehr ist als nur ein Verdauungsgetränk nach schwerem Essen. Er ist ähnlich wie der Aperitif ein Kunstwerk, welches es zu inszenieren und zu genießen gilt. Und welches man vielleicht auch erst erlernen muss.

Diese Liste könnte man lange fortführen, doch soll dies an anderer Stelle geschehen.

Zum Wohle!

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