Der Aperitif – Aufleben einer unbekannten Kultur

Im Falle einiger liquider Institutionen geht es weniger um das Getränk als solches, sondern vielmehr um die Fähigkeit, jenes in ein bestimmtes Rahmenprogramm zu integrieren – und dies möglichst kunstvoll.

Patrick Schopflin

Die höchsten Fähigkeiten auf diesem Gebiet muss man während des Aperitifs aufweisen, ist dies doch mehr als nur ein kleiner Schluck bzw. die Vorspeise. Der Aperitif ist eine Verflechtung aus soziokulturellem Verständnis der Zeit und des Ortes, gepaart mit einer gehörigen Portion Stil und Geschmack. Geboren in einem Dialog französischer und mediterraner Lebensfreude lassen sich vor allem in Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien viele Formen des geselligen Beisammenseins finden. Einige davon sollen im Folgenden betrachtet werden.

Champagner – der König der Weine; ganz klassisch oder auf Eis.

“Champagner geht immer” – eine eventuell latent dekadent anmutende Formulierung in der jedoch unendlich viel Wahrheit liegt. Er gilt gemeinhin als der König der Aperitif-Kultur – zumindest nördlich der Alpen und wird in seinem Heimatland von der Kanalküste bis an die Strandbars der Cote d’Azur genossen. Die heute allgegenwärtige trocken Qualität – brut – ist jedoch nicht der Ursprung. In vergangenen Tagen war Champagner deutlich süßer und mit hohem Restzuckergehalt. Dieser Stilistik wurde sich in den letzten Jahren wieder vermehrt angenommen. Qualitäten wie Moët Imperial Ice oder Clicquot Rich sind Zeugen dieser modernen Rückbesinnung. Halbtrockene bis hin zu süßen Champagnern trinkt man heute jedoch auf Eis. Für Puristen ein Fauxpas, schlussendlich jedoch äußerst lecker und eine unbedingte Empfehlung an lauen Sommerabenden.

Französische Regionalitäten – Von Äpfeln und Trauben

Dass Frankreich jedoch mehr zu bieten hat als Champagner wird deutlich, wenn man sich die Nischen der Trinkkultur unserer Nachbarn genauer anschaut. Dafür muss man eigentlich nur knapp zwei Stunden nach Norden fahren – in die Normandie. Unzählige Apfelbäume, an denen weit mehr als 100 verschiedene Sorten von Äpfeln reifen, bilden die Basis für ein (leider völlig) vergessenes und unterschätztes Produkt: den Cidre. Während einfachere Qualitäten dieses moussierenden Apfelweines durch künstliche hinzugesetzte Kohlensäure zum prickeln erweckt werden, entstehen die besten Cidre in klassischer Champagner-Reifung durch Flaschengärung. Fruchtbetont, leicht alkoholisch und immer mit einer süffisant-charmanten Neigung zum Kitschigen ist dieses schon den Parisern fast unbekannte Produkt der perfekte Einstieg in einen spätsommerlichen Abend – so gegen 14 Uhr. Etwas kräftiger dagegen erscheint der artverwandte Pommeau. Eine Mischung aus Apfelsaft und jungem Calvados, welche dann für mindestens 14 Monate im Fass reifen muss. Etwas dichter und komplexer als der – im Idealfall – trockene Brut, dafür jedoch perfekt geeignet, in einem großen Weinglas auf viel Eis genossen zu werden. (Sie müssen unbedingt den Cidre Contenin von Herout probieren und den Cidre Triple von Dupont  – beide mit etwas Suche in Deutschland erhältlich)

Weiter südlich – rund 500 km um genau zu sein – sind es nicht Äpfel, die die Basis der regionalen Getränke bestimmen, sondern Weintrauben. In der Region der Charente, um die Stadt Cognac herum produziert man neben dem berühmtesten aller Weinbrände ein Nebenprodukt namens Pineau des Charentes. Das Prinzip jedoch ist ähnlich des Pommeau. Unfermentierter Traubensaft wird mit eau-de-vie de cognac – also ungelagertem Traubendestillat gemischt und ist eine wunderbare Nachmittagsbeschäftigung. Auch gerne im Weinglas auf Eis.

(Pineau von Pierre Ferrand ist in Deutschland sehr gut zu bekommen)

Pastis – ein Aperitif für den ganzen Tag

Wenn man über Aperitif-Kultur schreibt und sich dem Süden Frankreichs nähert, so kann und darf man auf keinen Fall vergessen, Pastis zu erwähnen. Im Zuge des Absinth-Verbots entstanden, genießt man diese Anis-Spirituose aufgegossen mit Eiswasser. Auch wenn das Aroma von Anis die Geschmäcker spaltet, so ist es einfach unausdenkbar, an einem heißen Sommertag über den Dächern von Cannes zu sitzen und kein Pastis zu trinken. Erfrischend, kühl und leicht alkoholisch mit Wasser ist es das Getränk, welches – abhängig von der angestrebten Tätigkeit – eigentlich ganztägig genossen werden kann.

Je weiter man vom Norden in den Süden gelangt, umso mehr wird die Frucht als zentrales Moment im Aperitif von Kräutern abgelöst. deutlich wird dies beim Überschreiten der Alpen von Frankreich nach Italien.

Campari – eine italienische Geschichte der Bitterkeit

Campari – eine Instanz in Farbe, Geschichte und Geschmack – lässt sich wohl in jeder gut sortierten Bar finden. Der Bitterlikör schlechthin ist nicht nur Ausdruck italienischer Lebensfreude, sondern regt auf Grund seiner Bitterkeit gleichermaßen den Appetit an – eine Grundfunktion des Aperitivo – wie man ihn in Italien nennt. Sei es nun auf Eis oder mit Soda – Campari geht immer. Der große Campari-Aperitivo jedoch ist und bleibt der Negroni – ein Cocktail aus gleichen Teilen Gin, rotem Vermouths und Campari. Alles auf Eis in einem Tumbler gerührt und mit einer Orangenzeste garniert. Ciao bella! Doch nicht nur Campari lässt sich vielseitig einsetzen, auch der schon erwähnte Vermouth bietet allerlei Varianten.

Vermouth den Mutigen

War Vermouth noch vor zwei Jahrzehnten das Getränk der ärmeren Durstigen, avanciert der mit Wermutkraut versetzte und verstärkte Wein aktuell zu einem der Trendprodukte an der Bar. Unverzichtbar für klassische Drinks wie dem Martini-Cocktail oder den Manhattan entwickelt er allmählich das Rollenverständnis für einen Hauptdarsteller. Perfekt für die Sommerterasse geeignet sind dabei Drinks wie der Roof Garden Cooler  oder noch puristischer ein Vermouth Tonic. An dieser Stelle sei besonders auf eine süddeutsche Vermouth-Produktion hingewiesen: Belzazar Vermouth vom Kaiserstuhl in Baden. Deren Rosé-Vermouth mit einem Fever Tree Tonic Water im Longdrinkglas ist der vielleicht “zartrosa-farbigste“ Drink der Welt – aber ebenso sexy und erfrischend.

Sherry – die Grand Dame der Südweine

Frankreich und Italien sind mit Abstand die Länder, in denen Aperitif-Kultur zur Kunstform erhoben wird. Doch im gesamten Mittelmmeerraum lassen sich Getränke finden, die nicht nur den Appetit anregen, sondern oder besser: vor allem gesellschaftliches Mittel zum Abschluss des Arbeitstages sind. In Spanien zum Beispiel ist es der Sherry – hier vor allem die trockenen Varianten des Manzanillas oder des Finos. Diese vielleicht trockensten Weine der Welt erfrischen und beleben selbst bei Temperaturen um 40°C. Ihre Filigranität und Frische, Ihre Struktur und Eleganz gepaart mit ein paar Oliven lassen die Zeit bis zur kühlen Dunkelheit schnell vergehen und bringen Familie, Freunde und Kollegen für ein paar entspannende Stunden an einen Tisch. Auch wenn Sherry auf den ersten Blick wie ein Relikt aus den Tagen unserer Großeltern scheint – man kann ihn auch ohne jegliche Bridge-Kentnisse genießen. Man muss sich nur trauen!

(Probieren Sie unbedingt einen Manzanilla Passada der Bodega Urium)

Nochmal Martini – aber ganz anders: der King of Cocktails

Auch schon in die Tage gekommen, jedoch deutlich moderner wahrgenommen sind Cocktails. Und auch hier lassen sich ganz klassische Aperitife finden. Der schon angesprochene Negroni ist die europäische Variante, während der “König der blauen Stunde” wohl auf ewig der Martini sein wird. Gemixt aus vorwiegend trockenem Vermouth und Gin lässt er nicht nur James Bond zu Höchstleistungen im Namen „ihrer Majestät“ auflaufen, sondern ist stets ein Anzeichen von Erhabenheit und Weltgewandtheit. Doch sein populärer Name, sein kosmopolitischer Schein erschweren auch zugleich seine unbeschwerte Bestellung. Zuweilen missverstehen die Leute den Martini, denken Sie doch dabei häufig an den gleichnamigen Vermouth, welcher natürlich deutlich alkoholärmer ist – jedoch als wahrscheinlicher Namenspatron integraler Bestandteil der Geschichte des Drinks. Ein Martini-Cocktail, ob mit Olive oder nicht sollte immer in Rücksprache mit dem Barpersonal bestellt werden. Dafür ist der Kosmos, der sich mit dieser Bestellung eröffnet zu groß, um dort als Unerfahrener glücklich zu werden. Mit ein bisschen Erfahrung jedoch möchte man die Weiten dieser Welt ausgrenzen und jeden Winkel neu entdecken.

Aperitif – aber richtig.

Alle diese fantastischen Aperitife haben trotz ihrer Unterschiedlichkeit eines gemein: sie sind perfekte Begleiter für einen geselligen Start in den Abend. Der Aperitif ist immer etwas Geselliges; etwas, bei dem man bei kleineren Snacks jenseits von Erdnüssen oder Salzstangen – Stichwort Antipasti – den Tag revue passieren lässt und sich austauscht. Er kann das Entree für ein anschließendes Dinner sein, muss es jedoch nicht. Zuweilen kann man sich auf ein Gläschen verabreden und geht dann nach Hause oder weiter, etwas Essen.

Es ist die vielleicht schönste Genuss-Kultur der Welt, doch auch eine, die beherrscht werden will. Aber das schöne am Erlernen von Genuss ist ja bekanntlich, dass es lecker schmeckt und Spaß macht. Also trauen Sie sich – bevor es das nächste Mal zum Essen geht. Treffen Sie sich schon vorher auf einen anregenden leichten Drink und entspannen Sie sich. Denn nichts ist schlimmer als angespannt und abgehetzt von der Arbeit am abendlichen Esstisch Platz zu nehmen.

Lassen Sie uns gemeinsam von unseren Nachbarn lernen und das Leben etwas langsamer dafür genussreicher leben.

In diesem Sinne!

Autor: Thomas Zilm

Er beschäftigt sich mit dem liquiden Leben. Zwischen Spirituosen und Weinen wandelnd, beschäftigt er sich nicht nur mit den Produkten, sondern vielmehr mit den Menschen und den Philosophien dahinter. Darüber schreibt er auf seinem Blog

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